Dear Reader

Marius Goldhorn über Dopplungen und Gegenwarten

Shownotes:

Der Schriftsteller Marius Goldhorn war bereits bei Dear Reader zu Gast. Vor fünf Jahren, als sein Softcover-Roman „Park” im Suhrkamp Verlag erschien. „Sie sahen Systeme stürzen. Sie gingen in den Park“ steht auf dem Buchrücken, dieses schmalen, aber dichten Romans. Sein gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienener neuer Roman „Die Prozesse” führt uns erneut in ein unsicheres Europa. Und wieder wird hier die persönliche Geschichte stark von den politischen Ereignissen beeinflusst.

Der Roman spielt in der nahen Zukunft, zunächst in Brüssel. Nach dem Bekanntwerden schrecklicher Gräueltaten in libyschen Lagern und während des Gedenkens an die koloniale Gewaltgeschichte Belgiens kommt es dort zu einem Aufstand. Das ungleiche Paar, T., der Ich-Erzähler und Ezra, sein reicher Freund, bewertet diesen anarchistischen Moment, der sich in einer kleinen Kommune verstetigt, unterschiedlich. Mit dieser Doppelbewegung steigen wir in den dichten Text ein, der große Themen wie Auslöschung und Archivierung, Verbergen und Entblößung, aber auch ganz konkret den Ortswechsel von der Stadt aufs Land durchspielt. Wir begleiten die beiden nach Ligurien. Auch hier gibt es keine Idylle, keinen Frieden und keine Rückzugsmöglichkeit.

In dem Gespräch zwischen Marius Goldhorn und Mascha Jacobs geht es zunächst um das Interesse des Autors, seine Figuren von der Stadt aufs Land umzusiedeln. Sie sprechen über literarische Figuren als Container für Ideen, über Gegenwärtigkeit, die Oberfläche der Sprache und Verdopplungen. Außerdem sprechen sie über Krisenmindsets, Kriegszeiten und wie man darin Güte und Gnade bewahrt. Sie sprechen über das Notieren, Abschreiben und Überschreiben und warum Marius Goldhorn sich als Text-Admin versteht. Seine Texte sind stark von anderen Texten geprägt, und seine Figuren sind Behälter für Aussagen und Ideen bestimmter historischer oder noch lebender Menschen. Neben Internettheoretikerinnen der amerikanischen neuen Rechten haben ihn in „Die Prozesse“ Schriftstellerinnen und Künstler*innen der Moderne interessiert, um die Gegenwart und den neuen Faschismus zu verstehen.

Im Klappentext wird „Die Prozesse” als ein Roman von rätselhafter Klarheit beworben. Das trifft auch auf die von Marius Goldhorn mitgebrachten Lieblingstexte von Clarice Lispector und Gertrude Stein zu. Im Podcast geht es um „The Winner Loses: A Picture of Occupied“ France von Gertrude Stein. Dieser Text wurde 1940 im Atlantic Monthly veröffentlicht und ist in der Textsammlung „How Writing is Written“, die 1974 von Robert Bartlett Haas herausgegeben wurde, erschienen. Eine deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht. Er ist online auf der Homepage des Atlantic frei zugänglich (https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1940/11/the-winner-loses-a-picture-of-occupied-france/654686/)). Das Gespräch über die Literatur von Clarice Lispector bezieht sich vor allem auf die Texte „Água Viva” (im brasilianischen Portugiesisch 1973 veröffentlicht) und den gerade von Luis Ruby neu übersetzten Roman von 1964 „Die Passion nach G. H.” Beide sind bei Penguin erschienen.

Reflections on the Atomic Bomb heißt die andere Textsammlung von Gertrude Stein, über die Marius Goldhorn spricht.

Marius Goldhorn erwähnt auch Texte von Franz Kafka, Philipp K. Dick, Ursula K. Le Guin, Anne Carson, T.S. Eliot, Dante und „I Don’t Care“ von Ágota Kristóf.

Das folgende Interview mit Clarice Lispector wird ebenfalls kurz angerissen

https://www.youtube.com/watch?v=xZ5I1GZvTj0

Und wer mehr über Marius Goldhorn Arbeit und Denkweise erfahren will, sollte seinen Vortrag anlässlich seiner Buchpremiere am 5.9.2025 auf YouTube anhören: https://www.youtube.com/watch?v=TA4A8UgZoSA